Diskussionspapier zu den Ergebnissen der Londoner Afghanistankonferenz und den Vorschlägen der Bundesregierung

Gemeinsam mit den grünen Abgeordneten Omid Nouripour, Kerstin Müller und Ute Koczy bewertet Frithjof Schmidt die Ergebnisse der Londoner Afghanistankonferenz und die Vorschläge der Bundesregierung.

 

  1. Die Lage in Afghanistan

Die Lage in Afghanistan bleibt unübersichtlich und besorgniserregend. Die Sicherheitslage hat sich im letzten Jahr weiter verschlechtert und zwar nicht nur in den Konfliktherden im Süden und Osten Afghanistans, sondern auch in Teilen des Nordens. Im dritten Quartal 2009 fanden pro Monat 1244 Sicherheitsvorfälle statt, ein Anstieg von 65% im Vergleich zu 2008. Dabei kamen 784 Zivilisten ums Leben, die meisten von ihnen durch oppositionelle militante Kräfte. [1]

Von den angrenzenden Staaten geht teilweise ein destabilisierender Einfluss aus. Die Situation in den Grenzregionen zu Pakistan ist besonders instabil. Positiv zu verzeichnen ist, dass die USA und die internationale Gemeinschaft die Notwendigkeit einer regionalen Lösung für Afghanistan erkannt haben und die Bemühungen um eine solche intensiviert wurden. Angesichts der Tatsache, dass hier teils jahrzehntelange Konflikte (Indien und Pakistan), teils zentrale geostrategische Konflikte (Iran, Machtverteilung in Zentralasien zwischen Russland, China und der NATO) berührt sind, ist eine tragfähige Lösung aber noch in weiter Ferne. Es ist zudem ernüchternd zu beobachten, dass an der Londoner Afghanistan-Konferenz Ende Januar keine iranische Delegation teilgenommen hat.

Beim zivilen Aufbau ist die bisherige Bilanz ambivalent. Es gab und gibt unübersehbare Zeichen des Erfolges. In vielen Teilen des Landes sind Infrastrukturprojekte vorangekommen (Ring-Straße, Wasser- und Elektrizitätsnetze im Norden), auch im Bereich der Primar-Bildung gibt es Fortschritte. Trotzdem istAfghanistan nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und rangiert derzeit auf Platz 181 (von 182) des vom UN Entwicklungsprogramm berechneten „Human Deve­lopment Index 2009“.[2] Berichte über Korruption in der Entwicklungszusammenarbeit werden immer drastischer und öffentlicher, die Zahl der afghanischen PartnerInnen, mit denen Projekte umgesetzt werden sollen, wird immer geringer, die internationale Koordination ist lange noch nicht da, wo sie sein müsste. Zudem behindert die Sicherheitslage die Arbeit der Entwicklungsorganisationen immer stärker. Zwischen Januar und September 2009 gab es 114 Angriffe auf Hilfsorganisationen, bei denen 17 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ums Leben kamen[3]. Durch diese Probleme verschärfen sich die Personalengpässe bei den Organisationen vor Ort.

Der Aufbau afghanischer Staatlichkeit kommt schleppend voran und krankt noch immer an der zu starken Fokussierung auf den Zentralstaat und die Vernachlässigung dezentraler Strukturen. Während der Aufbau der afghanischen Armee zumindest teilweise als Erfolg bewertet werden kann, bleibt der Aufbau der afghanischen Polizei nach wie vor weit hinter den Erfordernissen zurück. Viele entlegenere Gegenden werden nur durch kleine Polizeikontingente gesichert, die entsprechend häufig Ziel von Angriffen werden und hohe Verluste zu beklagen haben.

Beim politischen Prozess innerhalb Afghanistans gibt es gravierende Veränderungen. Präsident Karzai hat in seiner Inaugurationsrede die nationale Aussöhnung und die Reintegration militanter Aufständischerer in den Mittelpunkt seiner zweiten Amtszeit gerückt. Dazu hat die afghanische Regierung im Vorfeld der London-Konferenz einen umfassenden Plan erarbeitet, der zum einen den in London beschlossenen Fonds zur Reintegration von Mitläufern der Aufständischen umfasst. Zudem bemüht sich Karzai auch, direkte Verhandlungen mit den Führungsgruppen der verschiedenen aufständischen Gruppen (Mullah Omar, Hekmatyar, Haqqani-Clan) zu führen. Auch hat Karzai in London die Abhaltung einer „Grand Peace Jirga“ angekündigt und den saudischen König Abdullah ibn Abd al-Aziz um Hilfe bei der Vermittlung gebeten. Im Gegensatz zur Bush-Administration unterstützen Obama und sein Sondergesandter Hoolbroke diesen Kurs ausdrücklich.

Von zentraler Bedeutung für den weiteren politischen Prozess werden die Parlamentswahlen und die lokalen Wahlen sein.

  1. Die Londoner Konferenz und der amerikanische Kurswechsel

Angestoßen von der neuen US-Administration und vom ISAF-Oberkommandierenden General McChrystal hat die internationale Gemeinschaft auf die ernüchternde Bilanz des bisherigen Afghanistan-Einsatzes mit einem Strategiewechsel reagiert. Im Zentrum der Obama-Strategie steht das Ziel, in den nächsten fünf Jahren Stabilität in Afghanistan durch einen verstärkten militärischen Einsatz einerseits und eine politischen Verhandlungslösung anderseits zu erzielen. Damit soll in absehbarer Zeit ein schrittweiser Abzug ermöglicht werden, ohne dass das Land unmittelbar in einen neuen Bürgerkrieg zurückfällt. Von weitergehenden Zielen wird Abschied genommen. Wesentliche Bestandteile der neuen Strategie sind ein deutlicher Aufwuchs der Truppen. Die US-amerikanischen Truppen sollen um 30.000 Soldatinnen und Soldaten aufgestockt werden. Die NATO Staaten sind aufgerufen, ebenfalls ihre Truppenstärken zu erhöhen. Die zusätzlichen Truppen sollen zur Ausbildung der afghanischen Armee eingesetzt werden und die afghanische Armee bei ihren Operationen im Feld unterstützen. Zudem hat ISAF-Oberbefehlshaber McChrystal klargestellt, dass der Schutz der Zivilbevölkerung oberste Priorität haben muss. In Folge ist bereits die Zahl der Zivilisten, die durch Einsätze der afghanischen Armee und ISAF Truppen ums Leben gekommen sind, zurückgegangen.[4] Der zivile Aufbau in seinen verschiedenen Komponenten soll deutlich verstärkt werden. Damit einher geht eine stärkere Verpflichtung der afghanischen Regierung stärker gegen Korruption vorzugehen.

Die Londoner Konferenz hat im wesentlichen den Strategiewechsel der US-Administration und die neue Prioritätensetzung der afghanischen Regierung nachvollzogen. Der Zeitplan von Obama und Karzai wurde bestätigt. Ab 2011 soll der Abzug der internationalen Truppen beginnen und in den nächsten fünf Jahren soll die Verantwortung für die Sicherheit an die Afghanen übergeben werden. Sich im Rahmen eines so komplizierten Prozesses auf ein festes Enddatum für einen Abzug festzulegen, macht wenig Sinn, vielmehr müssen klare Zwischenziele definiert und schrittweise erreicht werden.

Die Bundesregierung hat im Vorfeld der Konferenz keine eigenen Impulse gesetzt und ist den Entwicklungen in den USA und vor Ort eher hinterher gerannt, um kurz vor London doch noch die lang abgelehnte Truppenaufstockung anzukündigen. Die Abschlusserklärung begrüßt den innerafghanischen Versöhnungsplan Karzais und markiert zugleich rote Linien für einen solchen Prozess: Gewaltverzicht, die Loslösung von Al-Qaida und die Anerkennung der afghanischen Verfassung. Zudem soll die zivile Hilfe deutlich aufgestockt und die afghanische Eigenverantwortung gestärkt werden (so sollen in Zukunft 50% der internationalen Gelder von der afghanischen Regierung direkt verwaltet werden). Gerade in diesen Bereichen ist das Abschluss-Communiqué allerdings eine Sammlung von Absichtserklärungen und Arbeitsaufträgen für die nächste große Afghanistankonferenz im Frühjahr in Kabul. Konkrete Umsetzungsvorschläge sind nicht zu finden. Wie die Herausforderung gemeistert werden soll, in einem der Länder mit der höchsten Korruptionsrate (Afghanistan rangiert auf dem aktuellen Korruptionsindex von Transparency International auf dem vorletzten Platz vor Somalia) 50% der internationalen Gelder umzusetzen, bleibt offen. Zwischenziele für Aufbauerfolge werden nicht genannt. Erst solche Zwischenziele machen es für die Öffentlichkeit möglich, die Umsetzung der Maßnahmen in den nächsten Monaten zu überprüfen

Die Bewertung der neuen Strategie der afghanischen Regierung und der internationalen Gemeinschaft fällt aus grüner Sicht ambivalent aus. Einerseits finden sich Teile eines von uns geforderten Strategiewechsels darin wieder. Die Stärkung des zivilen Aufbaus, verstärkte Bemühungen um eine regionale Lösung, das Primat des Schutzes der Zivilbevölkerung und die Verständigung auf eine klare Abzugsperspektive fordern wir Grüne seit Jahren. Andererseits ist die Aufstockung der Truppen für uns das falsche Signal. Beim zivilen Aufbau reicht die bloße Zusage einer quantitativen Aufstockung nicht aus. Das „Rezept Geld“ alleine funktioniert nicht. Entscheidend sind vor allem die effektivere Verwendung  und eine bessere Koordinierung der Mittel  sowie die Berücksichtigung der Umsetzungskapazitäten vor Ort. Wie dies umgesetzt und überprüft werden soll, ist bislang nicht aufgezeigt worden.  Die Frage, ob dies wirklich ausreicht, um die Lage grundlegend zu ändern, wird nicht diskutiert.  Viele Fragen bleiben offen.

Die Vereinbarung und Unterstützung eines innerafghanischen Versöhnungsprozesses sind überfällige Schritte. Dabei ist es richtig, rote Linien zu benennen, die nicht überschritten werden dürfen. Die internationale Gemeinschaft muss die afghanische Regierung auf die Einhaltung solcher Mindeststandards, allen voran bei der Geltung von Menschenrechten und die Beteiligung von Frauen, verpflichten. Es muss darum gehen, innerhalb Afghanistans die progressiven Kräfte zu stärken und zu schützen. Einer besonderen Bedeutung kommt dabei der weiteren rechtlichen Umsetzung der afghanischen Verfassung zu. Das darin enthaltende Bekenntnis zu den Menschenrechten darf nicht ausgehöhlt werden.

Die massive Aufstockung der internationalen Truppen ist problematisch. Einen größeren Teil der bisher stationierten Truppen für den beschleunigten Aufbau der afghanischen Armee einzusetzen, ist sicherlich sinnvoll. Die neue Orientierung auf den Schutz der Zivilbevölkerung kann aus einer militärischen Logik heraus eine Truppenaufstockung notwendig erscheinen lassen. Aber das Ausmaß der Truppenaufstockung lässt befürchten, dass auch ein Grund für die Aufstockung eine erneute temporäre militärische Offensive ist.

Der Versuch, die Taliban gleichzeitig mit Versöhnungsangeboten und einer Eskalation der militärischen Gewalt in eine Verhandlungslösung zu zwingen, mag einer militärischen Logik folgen, notwendig ist allerdings eine politische Lösung, die einer anderen Logik folgt.

 

  1. Vorschläge der Bundesregierung

 

Nach wochenlangem internen Streit hat die Bundesregierung am 25. Januar ihre Vorstellungen für das weitere Engagement in Afghanistan vorgelegt. Basierend auf den Vorschlägen und dem Ergebnis der Londoner Konferenz wird die Regierung voraussichtlich am 9. Februar ein neues ISAF-Mandat im Kabinett beschließen. Zwei Monate nach der letzten Beschlussfassung über ein ISAF-Mandat würde dieses damit hinfällig. Die neuen Vorschläge der Bundesregierung reagieren auf die unverändert schwierige Lage in Afghanistan und nicht zuletzt auch auf unsere Kritik an dem bisherigen Kurs der Regierung.

Mit der Ankündigung, den zivilen Wiederaufbau massiv zu verstärken, kommt die Regierung unserer jahrelangen Forderung nach, allerdings fehlt immer noch eine Gesamtbewertung . Viel zu kurz kommt weiterhin der wichtige Polizeiaufbau. Unklar bleibt die militärische Strategie. Die UN-Mission UNAMA spielt zudem bei den Planungen der Bundesregierung keine Rolle. Obwohl UNAMA die international zentrale politische Koordinationsstelle sein muss und für diese Aufgabe mehr Kapazitäten braucht.

Wir erwarten von der Bundesregierung zudem Wahrheit und Klarheit über die Ziele in Afghanistan. Die deutsche Regierung hat die Ziele für Afghanistan reduziert, von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nach westlichem Muster wird schon lange nicht mehr gesprochen. Realistische Ziele sind sicherlich notwendig. Aber dann muss die Regierung diese Ziele klar und ehrlich benennen und nicht nur sagen, was alles nicht (mehr) geht. Zugleich muss sie Klarheit über die Situation im deutschen Verantwortungsbereich schaffen und ihre strategischen Linien offenlegen.

 

3.1  Ziviler Aufbau

Die Bundesregierung hat eine „Entwicklungsoffensive“ im Norden Afghanistans angekündigt. Ab 2010 sollen die Mittel von 260 Millionen Euro[5] auf 430 Millionen Euro kräftig erhöht werden. Wir begrüßen diese längst überfällige Aufstockung der Mittel, wenn sie wirklich durch eine Veränderung des bereits vorliegenden Haushaltsentwurfs umgesetzt wird. Die Erhöhung kommt spät, viel Zeit wurde bisher versäumt.

Unbeantwortet ist, wie die Regierung diese zusätzlichen Gelder nachhaltig einsetzen will.

Noch am 22. Januar hat Entwicklungsminister Niebel in der Financial Times Deutschland den Sinn von mehr Geld für Afghanistan in Frage gestellt. In der Tat sind die bisherigen Erfolge im Verhältnis nicht zufriedenstellend. Mehr Mittel für den zivilen Aufbau benötigen vor allem auch eine bessere Strategie. Dazu gehört in einem ersten Schritt eine externe Evaluierung der bisher geleisteten Aufbauanstrengungen, um Fehlentwicklungen zu vermeiden. Wir brauchen eine Gesamtbilanz, die es ermöglicht, nicht nur punktuelle Erfolge oder Misserfolge zu erfassen, sondern die gesamte Lage zu diskutieren. Solange bleibt eine realistische Einschätzung der Lage rudimentär.

Mit den Schwerpunkten ländliche Entwicklung, Infrastruktur, Energie – und Wasserversorgung sowie Bildung werden richtige Prioritäten durch die Bundesregierung benannt. Damit ist es aber nicht getan. Die Bundesregierung muss die afghanischen Institutionen dabei unterstützen, die grassierende Korruption zu bekämpfen und den zivilen Aufbau in die Fläche zu tragen. Zugleich erfordern höhere zivile Anstrengungen mehr Personal für die Unterstützung des Aufbaus. Wenn die Mittel schneller fließen als die Strukturen wachsen können, geht das auf Kosten der Qualität und die Korruption nimmt zu. Aber es fehlt schon jetzt an zivilen (internationalen) Helfern. Verstärkt wird das Problem durch die immer noch mangelnde internationale Koordination, die jetzt die UN übernehmen soll. Diese ist aber durch den temporären Abzug von 600 UN-Mitarbeitern nach dem Anschlag auf das UN-Gästehaus Ende 2009 und den massiven Vertrauensverlust bei der Wahl Karzais stark geschwächt. Eine Verstärkung des zivilen Aufbaus erfordert auch eine stärkere Verantwortung der afghanischen Seite. Die afghanische Regierung muss dazu ihre Kapazitäten, die zusätzlichen Mittel einzusetzen, rapide verbessern. Ein wichtiger Beitrag zur Stabilisierung der Lage wäre zudem sicherlich, die Entscheidungen über durchzuführende Projekte immer stärker partnerschaftlich auf die lokalen Ebenen zu transferieren. Positive Erfahrungen wie mit dem „National Solidarity Program (NSP)“ weisen in die richtige Richtung.

Die internationale Gemeinschaft und die Bundesregierung sind gefordert diese Herausforderungen zügig zu beantworten, damit mehr Geld tatsächlich mehr Aufbau und nicht vor allem mehr Korruption bedeutet.

In eine völlig falsche Richtung gehen die Drohungen von Entwicklungsminister Dirk Niebel an die Nichtregierungsorganisationen Mittel zu streichen, wenn diese nicht mit der Bundeswehr kooperieren. Das birgt eine Gefahr, dass zivile Helfer als Handlanger des Militärs erscheinen und sie so zu Angriffszielen werden. Damit wäre zudem auch die Kooperation mit der afghanischen Seite gefährdet und die Vertrauensbasis zerstört. Eine Vermischung von humanitärer Hilfe, Entwicklungszusammenarbeit und militärischem Einsatz lehnen wir daher strikt ab. Zudem sollte Entwicklungszusammenarbeit dort stattfinden wo der Bedarf vor Ort ist und sich nicht an militärischen Prioritäten ausrichten.

 

3.2 Polizei in Afghanistan

Im Bereich der Polizeiausbildung hat die Bundesregierung eine Erhöhung auf 200 Polizeikräfte für das bilaterale Polizeiprojekt angekündigt. Die Zusagen der Vergangenheit, 120 Polizeikräfte für die EUPOL-Mission und 60 für das bilaterale Polizeiprojekt, wurden schon bisher nicht eingehalten. Zur Zeit sind nach Aussagen der Bundesregierung nur 123 Polizeikräfte vor Ort, viele nur für wenige Wochen, damit plant die Regierung nur eine kosmetische und keine substantielle Erhöhung.

Die EUPOL Mission besteht seit dem 15. Juni 2007. Sie krankt bis heute vor allem an einem sehr lückenhaften Mandat, so dürfen EUPOL-Polizisten nicht ausbilden, sondern nur beraten. Hier ist bis heute kein ernsthaftes Umsteuern durch die Europäische Union und Deutschland ersichtlich.

Gebraucht werden mindestens 2000 zusätzliche europäische Polizeiausbilder in Afghanistan, davon mindestens 500 Polizeiausbilder aus Deutschland. Ansonsten kann das Ausbildungsziel von 134.000 afghanischen Polizisten bis Ende 2011, das die internationale Gemeinschaft gemeinsam mit Afghanistan auf der Londoner Konferenz zum Ziel ausgerufen hat, nicht erreicht werden. Mit dem jetzigen minimalen Aufwuchs versagt die Bundesregierung beim extrem wichtigen Polizeiaufbau erneut. Das ist und bleibt ein Skandal.

Damit der Polizeiaufbau deutlich verstärkt werden kann, bedarf es auch einer besseren Anreizstruktur für die Polizei. Auslandseinsätze dürfen nicht zum Nachteil, sondern müssen zum Vorteil für die Karriere werden. Entscheidend dafür, dass die Bundesländer bereit sind, mehr Polizeikräfte zur Verfügung zu stellen, ist der Aufbau eines landesweiten Pools von Polizisten für internationale Einsätze. Der Vorstoß des Verteidigungsministers, den Konflikt zu einem „nicht-internationalen bewaffneten Konflikt“ zu erklären, kann neue Probleme aufwerfen, wenn einige Bundesländer in den Raum stellen, dass sie dann möglicherweise ihre bisherigen Polizeikräfte aus dem Einsatz wegen rechtlicher Probleme zurück ziehen würden.

 

3.3. Bundeswehr

Die Bundesregierung hat angekündigt, das Bundeswehrkontingent um 850 Soldaten zu erhöhen. Davon sollen 500 Soldaten vor Ort zur Verstärkung eingesetzt werden. 350 Soldatinnen und Soldaten sind als Personalreserve vorgesehen, die zeitlich begrenzt nach Befassung des Verteidigungsausschusses entsandt werden können. Außerdem ist zu erwarten, dass in den nächsten Wochen eine Entsendung der AWACS-Aufklärungsflugzeuge zur Luftraumkoordinierung angefordert wird und damit bis zu 300 zusätzliche Soldaten für den Einsatz in Afghanistan bereitgestellt werden. Zusätzlich zur Erhöhung des Bundeswehrkontingents haben die USA angekündigt, ab April um etwa 5000 zusätzliche Soldaten im Norden zu stationieren. Damit sind dann im Norden in etwa so viele amerikanische wie deutsche Soldaten stationiert. Eine vollkommen neue Situation, in der das deutsche Engagement ganz anders eingebettet sein wird und dementsprechend neu bewertet werden muss.

 

Die Kontingentaufstockung begründet die Bundesregierung u.a. mit dem Ziel, statt bisher 280 dann circa 1400 Soldaten für die Ausbildung der afghanischen Armee einzusetzen. Gleichzeitig soll die Quick Reaction Force (QRF) aufgelöst werden. Laut Bundesregierung dient diese Aufstockung einer Schwerpunktverlagerung weg von einem „offensiven“, hin zu einem „defensiven“ Vorgehen.

Die beabsichtigte Verstärkung der Ausbildung erscheint angesichts der Situation in Afghanistan richtig. Allerdings hat die Bundesregierung bereits 2008 die Erhöhung der Mandatsobergrenze von 3500 auf 4500 mit der Ausbildungsunterstützung für die afghanische Armee begründet. [6] Dass bis heute nur 280 Soldatinnen und Soldaten in der Ausbildung eingesetzt sind, lässt an der Umsetzung der neuen Ankündigung zweifeln. Unbeantwortet bleibt zudem die Frage, warum die verstärkte Ausbildung der afghanischen Armee nicht durch ein größeres Umschichten innerhalb des bestehenden Mandats erreicht wird, beispielsweise durch einen Verzicht auf die ineffizienten und kostspieligen RECCE-Tornados.

 

Die Quick Reaction Force galt aufgrund der verschärfen Sicherheitslage im Raum Kunduz bisher als unverzichtbar. Unklar bleibt daher nicht nur wer die Aufgaben der QRF übernimmt – möglicherweise ist es eine Aufgabe für die amerikanischen Soldaten im Norden – sondern auch nach welchem Konzept die Ausbildung der afghanischen Armee erfolgen soll.

 

Äußerungen des Verteidigungsministers lassen erkennen, dass künftig deutsche Ausbilder verstärkt mit afghanischen Soldaten operieren sollen. Der Bundeswehrverband verweist bereits auf die gestiegene Gefahr für die Soldaten. Es wird aber auch darauf ankommen, wie die Bundeswehr gemeinsam mit der afghanischen Armee (ANA) gegen Aufständische im Norden vorgeht. Eine massive Aufstandsbekämpfung unter dem Deckmantel der ANA mit Hilfe der Bundeswehr wäre eine Eskalation der Gewalt und würde im Ergebnis kein defensiveres sondern militärisch offensiveres Vorgehen bedeuten. So rechnet bereits jetzt der Kommandeur des Regionalkommandos Nord Brigadegeneral Leidenberger mit einer Zunahme an Gefechten[7] . Nach dem Luftangriff am Kunduz-Fluss ist die Regierung in besonderer Verantwortung, Klarheit über den Charakter des deutschen Einsatzes im Norden zu schaffen. Dazu gehört auch zu erklären, wie sich die amerikanischen Soldaten in den Einsatz im Norden einfügen. Bisher wurde verkündet, dass diese unter deutschem Oberkommando ebenfalls einen Schwerpunkt auf die Ausbildung der afghanischen Armee legen. Indizien lassen befürchten, dass es sich dabei nicht nur um Ausbildung, sondern auch um einen militärischen Kampfeinsatz handelt. So sollen im Norden amerikanische Hubschrauber, darunter auch Kampfhubschrauber vom Typ Apache, stationiert werden, die Bodentruppen aus der Luft unterstützen können.[8]

Insgesamt verdichten sich die Hinweise, dass Bundeswehrsoldaten mittels eines offensiven Vorgehens eine bessere Ausgangssituation für Verhandlungen der Regierung Karzai und der internationalen Gemeinschaft mit den Taliban und anderen bewaffneten oppositionellen Kräften erzielen sollen. Eine solche Strategie halten wir für nicht richtig. Eine Erhöhung des Bundeswehrkontingents ist für uns vor dem Hintergrund dieser strategischen Unklarheiten nicht akzeptabel.

 

  1. Fazit

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stehen zu ihrer Verantwortung für Afghanistan. Wir begrüßen die Kraftanstrengungen beim zivilen Wiederaufbau und halten bisher grundsätzlich am Stabilisierungseinsatz ISAF in Afghanistan fest. Die Bundeswehr ist, basierend auf einem Mandat der Vereinten Nationen, in Afghanistan, um die afghanische Regierung beim Aufbau des Landes und der Gewährleistung von Sicherheit zu unterstützen. Sie soll mit den afghanischen PartnerInnen dazu beitragen, ein sicheres Umfeld für zivile HelferInnen zu schaffen und den Schutz der Bevölkerung zu gewährleisten. Es soll zugleich verhindert werden, dass erneut eine terroristische Gefahr von Afghanistan ausgeht.

 

Mit dem Vorfall vom 4. September 2009 in Kunduz und der im Nachgang betriebenen Vertuschung hat die Bundesregierung das bisherige Vertrauen in die Transparenz von Planung, Zielen und Durchführung des Bundeswehreinsatzes nachhaltig erschüttert.

 

Auch die neuen Vorschläge der Bundesregierung schaffen keine Klarheit über das weitere Vorgehen der Bundeswehr. Es steht zu befürchten, dass die Regierung eine massive Aufstandsbekämpfung unter dem Deckmantel einer verstärkten Ausbildung der afghanischen Armee für den Frühling und den Sommer plant.

Wir fordern daher von der Regierung

  • nach dem Luftangriff am Kunduz-Fluss im Mandat klarzustellen, dass ISAF als Stabilisierungseinsatz fortgeführt und nicht in eine militärisch offensive Aufstandsbekämpfung umgewandelt wird.
  • bei der Formulierung des Mandats nicht nur den Einsatz des Militärs, sondern eine umfassende Beschreibung gerade des zivilen Engagement Deutschlands in Afghanistan vorzunehmen.
  • statt einer Erhöhung der Zahl der Soldaten im bestehenden Kontingent umzuschichten, beispielweise durch den Abzug der ineffizienten und kostspieligen RECCE-Tornados.
  • die Polizeiausbildung deutlich zu verstärken und mindestens 500 Polizeiausbilder dafür bereitzustellen.
  • einen konkreten Zeitplan mit klaren Benchmarks für die Übergabe der neun Provinzen im Norden an die afghanische Regierung vorzulegen.
  • die deutsche Entwicklungszusammenarbeit zügig zu evaluieren, effektiver zu gestalten und nicht mit einer militärischen Logik zu verknüpfen.
  • sich für die Schließung von Geheimgefängnissen wie in Baghram einzusetzen. Zudem müssen Menschenrechtsorganisationen und die Vereinten Nationen Zugang zu den Gefangenen erhalten.

 

Klar ist aber auch, über die Umsetzung eines konkreten Abzugsplans hinaus: unsere Solidarität und Verpflichtung gegenüber Afghanistans gehen über den Zeitraum des Militäreinsatzes hinaus. So richtig das Ziel einer zügigen Übergabe der Verantwortung an die afghanische Regierung ist, auch in zehn Jahren wird eine weitere Entwicklungszusammenarbeit mit Afghanistan notwendig sein. Daher wird entscheidend sein, inwieweit die internationale Gemeinschaft eine langfristige zivile Strategie für Afghanistan und seine Nachbarstaaten verfolgt, zu der eine langfristige Entwicklungszusammenarbeit und die Unterstützung eines regionalen Sicherheitskonzepts gehören. Dazu erwarten wir konkrete Pläne von der Regierung und der international

[1] The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security – Report of the Secretary-General, 28.12.2009

 

[2] hdr.undp.org/en/statistics/

 

[3] Was will Deutschland am Hindukusch? – VENRO-Positionspapier 7/2009

 

[4] The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security – Report of the UN Secretary-General, 28.12.2009

 

[5] Antwort BMZ auf eine schriftliche Frage von Ute Koczy vom 27. Januar 2010

 

[6] BT-Drucksache 16/10473

 

[7] Bild am Sonntag, 31. Januar 2010

 

[8] ebda.

 

gruene-bundestag.de/cms/internationales/dokbin/327/327037.ergebnisse_der_londoner_afghanis

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