Ein Abzug, der keiner ist

Gastbeitrag von Frithjof Schmidt

Der multinationale Einsatz in Afghanistan bröckelt. Zahlreiche Staaten haben eigene Abzugspläne bekannt gegeben: Polen, unser östlicher Nachbar, hat erklärt, in den kommenden zwei Jahren seine Truppen abzuziehen. Unser westlicher Nachbar, die Niederlande, hat seine Armee bereits weitgehend nach Hause geholt. Italien, der viergrößte Truppensteller, will von 2011 bis 2014 den Abzug vollziehen Und Schweden, das wie Deutschland im Norden Afghanistans Verantwortung übernimmt, hat parteiübergreifend beschlossen, von 2012 bis 2014 stufenweise abzuziehen.

Angesichts dieser Entwicklungen hat nun die Nato Ende November in Lissabon ihren Fahrplan bekräftigt: Ab 2011 sollen erste Distrikte und Provinzen an die afghanische Regierung übergeben werden. 2014 soll der Prozess abgeschlossen sein. „Nato stellt Weichen für Abzug“ titelten daraufhin die Medien. Auch die deutsche Regierung hat sich diesen Zeitplan zu Eigen gemacht. Man könnte meinen, dass Kapitel „Afghanistan-Einsatz“ würde in großer Harmonie und allseitigem Einverständnis in absehbarer Zeit geschlossen werden.

Doch ganz so einfach ist es nicht. Denn der Eindruck, der Abzug der Truppen aus Afghanistan bis 2014 wäre beschlossene Sache, ist so – leider – falsch. Vielmehr betreiben Nato und mit dabei die Bundesregierung hier eine Politik, die an einen Etikettenschwindel grenzt. Sie tricksen und tarnen, vor allem wohl um die unwillige Bevölkerung ruhig zu stellen. Denn die Nato plant keineswegs alle Truppen bis 2014 abzuziehen. Bis dahin sollen ausschließlich die Kampftruppen abgezogen werden – während Truppen zur Ausbildung weiterhin im Land verbleiben sollen. Und was alles unter „Ausbildung“ verstanden werden kann, bleibt offen. Auch Außenminister Westerwelle verkündet nur den Abzug der deutschen Kampftruppen bis 2014.

Ein Wintermärchen

Das muss aber kein Abzug sein, sondern kann sich auch als ein Wintermärchen entpuppen. Ausbildungstruppen in Afghanistan sind auch Kampftruppen. Ausbildung erfolgt im Rahmen des „Partnerings“. Schulter an Schulter bilden internationale Soldaten die afghanische Armee aus, ziehen gemeinsam ins Gelände, kämpfen zusammen in Gefechten.

Wir kennen den Text. Und wir kennen die Herren Verfasser von der letzten Mandatsverlängerung. Auch damals hat die Bundesregierung der Öffentlichkeit Sand in die Augen gestreut. Allen voran hat Außenminister Westerwelle groß einen Strategiewechsel von „offensiv zu defensiv“ verkündet. Konkret hieß dies, dass die flexible Kampftruppe unter dem Namen „Quick Reaction Force“ auf neue Ausbildungsbataillone aufgeteilt wurde. In der Realität vor Ort führte dies zu offensiveren und nicht wie behauptet defensiveren Vorgehen. Denn diese Truppen gehen mit der afghanischen Armee gemeinsam, offensiv und verstärkt gegen aufständische Gruppen vor. So z.B. im Distrikt Char Darah, den die deutsche Bundeswehr gemeinsam mit der Afghanischen Armee im Rahmen der Operation „Halmasag“ (Blitz) versuchte aus der Hand der Taliban zu befreien.

Was wir jetzt erleben, ist die Neuauflage dieses Wintermärchens. Ein Abzug wird suggeriert, was dann bis und ab 2014 wirklich passiert, ist völlig offen. Damit kaschieren die Nato und die Bundesregierung ihre eigene Zerrissenheit in der Frage, wie es mit dem Isaf-Einsatz weitergehen soll.

Ich halte diese vage Unbestimmtheit für einen schweren Fehler. „Militärisch kann der Konflikt in Afghanistan nicht gewonnen werden.“ Diese Erkenntnis war und bleibt richtig. Der US-amerikanische Think Tank „Carnegie Endowment for International Peace“ kommt in einer aktuellen Studie zu dem Schluss, dass im Süden Afghanistans trotz der erfolgten Truppenaufstockung ein Patt zwischen Isaf-Truppen und den Aufständischen herrscht. Von einer Positivdynamik, wie sie US-Militärs sehen würden, sei nichts zu sehen. Auch die US-Geheimdienste sehen Medienberichten zufolge die Taliban durch die Militäroffensiven in diesem Jahr kaum geschwächt. Vor diesem Hintergrund klingt die politische Bewertung der Bundesregierung in ihrem gestern veröffentlichten Fortschrittsbericht, in 2011 stehe eine Wende in Afghanistan bevor, doch sehr nach Durchhalteappell.

Außerdem nimmt die Zustimmung in der afghanischen Bevölkerung für den Verbleib der internationalen Truppen in Afghanistan immer weiter ab, wie eine Umfrage von ARD, BBC, ABC und Washington Post zeigt. Auch das Ansehen Deutschlands und der Bundeswehr ist der Umfrage zufolge auf einen Tiefststand gefallen. Es mehren sich also die Anzeichen, dass die offensive Militärstrategie eine politische Lösung erschwert. Die internationalen Truppen sind in Afghanistan immer mehr Teil des Problems, nicht der Lösung.

Die richtige Entscheidung für Afghanistan

Deshalb wäre eine präzise Abzugsplanung das Gebot der Stunde. Bis 2014 ließe sich auch ein verantwortbarer Abzug der internationalen Truppen erreichen – denn es würden drei Jahre bleiben, um die Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte voranzubringen und eine politische Lösung zu erzielen. Dabei müsste ein Abzugsplan einhergehen mit einer defensiveren Militärstrategie, dem Stopp der gezielten Tötungen im Rahmen der Strategie „capture or kill“ und einer auf Dauer angelegten zivilen Aufbaustrategie über 2014 hinaus.

Wie andere europäische Regierungen sollte auch die Bundesregierung einen vollständigen und ehrlichen Abzugsplan vorlegen. Jetzt vor der anstehenden Mandatsverlängerung im Bundestag ist der Zeitpunkt dafür. Länger als 2014 sollten die Verbände der Bundeswehr nicht in Afghanistan bleiben. Wenn von der Bundesregierung erwogen wird, der afghanischen Regierung darüberhinaus eine begrenzte Zahl an Militärausbildern anzubieten, dann sollte das offen und mit klaren Konditionen gesagt werden.

Wir wissen aus den von Wikileaks veröffentlichen Dokumenten, dass es vor allem zwischen Außenminister Westerwelle und Verteidigungsminister zu Guttenberg heftiges Gerangel um den künftigen Kurs geben soll. „Westerwelle, nicht die SPD, sei das größte Problem bei der Aufstockung der Truppen gewesen“ heißt es dort. Sollte dies stimmen, stünden wir Grüne diesmal – ausnahmsweise – gerne bereit, in diesem Punkt Herrn Westerwelle den Rücken zu stärken. Denn ein vollständiger Abzug bis 2014 wäre die richtige Entscheidung für Afghanistan und für die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr.

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