Die Debatte um den Haushalt des Auswärtigen Amtes ist traditionell die Aussprache über die außenpolitischen Grundlinien der Bundesregierung. Frithjof Schmidt kritisierte in seiner Rede die Reduzierung des humanitären Haushalts bei gleichzeitiger massiver Aufstockung des Verteidigungsetats. In der Europapolitik forderte Frithjof Schmidt mehr Geld für ein europäisches Investitionsprogramm zur Verfügung zu stellen. Die Pläne von Kommissionspräsident Junker reichen nicht aus, um die wirtschaftliche Krise zu überwinden, in der derzeit viele EU-Mitgliedstaaten stecken.
Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich möchte mit der dramatischen Lage in Syrien beginnen. Wir befinden uns jetzt im fünften Jahr des Bürgerkrieges in Syrien. Die humanitäre Lage ist katastrophal. Sie alle kennen die Berichte, die uns aus dem umkämpften Aleppo und anderen Orten erreichen. Ausgehandelte Waffenstillstände werden gebrochen. Eingekesselte Menschen können nicht mit Nahrungsmitteln und Wasser versorgt werden. Ich sage: In dieser dramatischen Lage muss die humanitäre Versorgung der Zivilbevölkerung oberste Priorität haben.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)
Herr Außenminister, deswegen begrüßen wir, dass Sie nach einigem Zögern begonnen haben, sich für die Schaffung einer humanitären Luftbrücke zu engagieren. Die UNO hat das seit gut drei Monaten gefordert. Niemand kann den eingekesselten Menschen in Aleppo erklären, warum die westliche Allianz täglich Dutzende von Bomben in umkämpfte Gebiete abwerfen kann, aber keine Lebensmittel und keine medizinische Versorgungsgüter über dem Stadtgebiet von Aleppo.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Niemand kann das erklären.
So richtig es ist, dass die USA und Russland am Rande des G-20-Gipfels Verhandlungen über umfangreiche Waffenstillstände geführt haben – das ist gut -: Solange diese aber nicht zustande kommen, bleibt die Frage der Luftversorgung für die Menschen in Aleppo zentral. Sie gehört in das Zentrum auch der deutschen Politik.(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich hätte mir gewünscht, die Bundesregierung hätte die Frage der Luftversorgung der Bevölkerung in Aleppo auf die offizielle Tagesordnung der G 20 gesetzt. Warum haben Sie, warum hat Frau Merkel das nicht versucht? Das ist wieder eine verpasste Chance für die Menschen in Aleppo, die schnell Hilfe brauchen.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ich will noch eine zweite Bemerkung zum Krieg in Syrien machen. Jetzt geht der NATO-Partner Türkei dort militärisch gegen besonders wichtige kurdische Verbündete der Anti-ISIS-Allianz vor, die vom NATO-Partner USA auch personell am Boden mit Special Forces unterstützt werden. Die USA mussten in dieser Situation ihre Soldaten auf einen Stützpunkt evakuieren, damit NATO nicht direkt auf NATO schießt, statt ISIS zu bekämpfen. Da sind geschützte Gebiete, die durch das Vorrücken der Freien Syrischen Armee freigekämpft wurden. Wir alle reden darüber, dass es geschützte Gebiete, geschützte Räume braucht. Sie geraten in Gefahr.
Die Bundeswehr ist Teil dieser Allianz, deren Strategie in Syrien die Türkei gerade buchstäblich in Stücke schießt.(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich sage: Dieses Vorgehen der Türkei ist ein politischer Skandal, der die gesamte Strategie des Westens zur Lösung der Fragen in Syrien grundlegend infrage stellt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Michael Leutert (DIE LINKE))
Sie, Herr Außenminister, sagen dazu praktisch nichts. Sie geben keine klare politische Bewertung dazu ab. Ich finde, das geht nicht.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Herr Außenminister, der Bedarf an humanitärer Hilfe wächst international dramatisch an. Das wissen Sie natürlich vermutlich besser als wir alle. Deswegen kann ich Ihren Haushaltsentwurf für diesen Bereich überhaupt nicht nachvollziehen. Sie haben in diesem Jahr Ihren Haushaltsansatz um 400 Millionen Euro überziehen müssen, und Sie haben rund 1,1 Milliarden Euro für humanitäre Hilfe ausgegeben. Das war gut und richtig so, und wir haben das unterstützt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Aber was ist jetzt? Jetzt beantragen Sie für 2017 nur 730 Millionen Euro. Sie wollen die realen Ausgaben also um 400 Millionen Euro kürzen. Das ist doch in dieser internationalen Situation einfach völlig absurd.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Sie wissen, dass der Bedarf weiter dramatisch steigt. Sie müssen diesen Etat erhöhen. Sie wissen auch, dass es so kommen wird. Die Hilfsorganisationen brauchen dringend Planungssicherheit. Reden Sie einmal mit dem World Food Programme. Dessen Vertreter sagen: Wenn wir am Anfang des Jahres nicht wissen, dass wir in der zweiten Hälfte des Jahres Schiffe und Lebensmittel bestellen können, steigen die Kosten der Versorgung der Bevölkerung dramatisch – um 30 Prozent – an. Wir brauchen Planungssicherheit.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Michael Leutert (DIE LINKE))
Am Ende die Finanzlöcher wieder mit außerplanmäßigen Mitteln zu stopfen, wie Sie das letztes Jahr gemacht haben, das schafft Chaos und Not. Das ist politisch falsch. Es ist absehbar, dass es so kommt, und das müssen Sie korrigieren, meine Damen und Herren von der Koalition.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Das wird besonders unverständlich vor dem Hintergrund, dass Ihre Regierung gleichzeitig den Verteidigungshaushalt um 2,3 Milliarden Euro erhöhen will. Das ist übrigens fast das Sechsfache der 400 Millionen Euro, die nötig sind, um die Ausgaben für die humanitäre Hilfe auf ihrem jetzigen Stand zu halten. Werte Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, dieses Missverhältnis kann doch nicht Ihr Ernst sein. Sie haben an dieser Stelle wirklich den politischen Kompass verloren.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Wenn über Krisen und Kämpfe in Afrika und im Nahen Osten sowie über Flucht und Migration gesprochen wird, dann überbieten sich alle in der Forderung, dass etwas gegen Fluchtursachen getan werden muss. Aber die Schere zwischen Ausgaben für humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit einerseits und Militärausgaben andererseits klafft immer weiter auseinander; das Missverhältnis wächst. Knapp 9 Milliarden Euro auf der zivilen Seite stehen jetzt schon 36 Milliarden Euro auf der militärischen Seite gegenüber, und die Bundeskanzlerin will hier das erklärte NATO-Ziel von 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erreichen, 2 Prozent! Das wären rund 60 Milliarden Euro. Das ist das erklärte Ziel Ihrer Politik. Das ist doch die falsche Perspektive.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Heike Hänsel (DIE LINKE): Mit denen wollen die Grünen koalieren!)
Das Ziel der Politik muss doch sein, diese Schere wieder mehr zu schließen. Hier stimmt die ganze Richtung Ihrer Haushaltspolitik nicht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir erleben derzeit eine tiefe Krise der Europäischen Union. Sie hat eine politische Dimension, die die Brexit-Abstimmung in Großbritannien symbolisiert – starke reaktionäre Kräfte wollen eine Rückabwicklung der politischen Union zu einem Bündnis von Nationalstaaten mit einem gemeinsamen Binnenmarkt -, und sie hat eine wirtschaftliche Dimension, für die besonders die Bankenkrise und die hohen Arbeitslosenzahlen in vielen Ländern stehen. Gerade auch bei Jugendlichen beträgt die Arbeitslosigkeit bis zu 50 Prozent; das wissen Sie alle. Hier droht die Gefahr des wirtschaftlichen Auseinanderdriftens der Union.
Deswegen hätte ich im Rahmen dieses Haushaltes eine Initiative für eine aktive europäische Wirtschaftspolitik erwartet.(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Herr Schäuble hat bei der Einbringung des Haushaltes am Dienstag gesagt, dass man die Juncker-Initiative irgendwie fortschreiben, vielleicht sogar ein bisschen erhöhen oder steigern wolle. Meine Damen und Herren von der Koalition, das reicht doch nicht. Die Juncker-Initiative hatte von Anfang an zu wenig Mittel zur Verfügung und hatte auch einige schlechte Schwerpunktsetzungen. Wir brauchen eine gemeinsame wirtschaftliche Kraftanstrengung der ganzen Europäischen Union für umfangreiche Investitionen. Wichtige Nachbarländer fordern das, aber Ihre schwarz-rote Koalition kann sich darüber nicht einigen, und deshalb finden Sie nicht die Kraft, im Haushalt 2017 die Mittel für eine solche Initiative bereitzustellen und in Europa voranzugehen. Das wäre dringend nötig.
In dieser Krisensituation das nicht zu tun, hier im Haushalt „Fehlanzeige“ zu haben, das ist – tut mir leid – ein außenpolitisches Versagen von großer Tragweite. Sie sollten auch das dringend und schnell korrigieren und die Kraft aufbringen, die Europapolitik genau in diesem Bereich des wirtschaftlichen Zusammenhalts Europas ins Zentrum Ihrer Politik zu rücken.(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Raufen Sie sich zusammen! Europa braucht eine solche Lösung.
Danke für die Aufmerksamkeit.(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
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