NATO auf Jobsuche

in „Blätter für deutsche und internationale Politik“ von Dr. Frithjof Schmidt

Am 19. und 20. November werden sich die Staats- und Regierungschefs der 28 NATOStaaten
in Lissabon versammeln, um ein neues strategisches Konzept zu verabschieden. Heute
umfasst ihr Militärbudget 70 Prozent der globalen Militärausgaben. Die NATO repräsentiert
damit, zumindest statistisch, eine fast unglaubliche militärische Dominanz. Sie hat die Epoche
des Kalten Krieges im 20. Jahrhundert faktisch als Siegerin überstanden – und existiert weiter
als überlebender Dinosaurier der einstigen Blockkonfrontation.
Die letzten beiden Jahrzehnte waren demzufolge mehr durch die Suche nach legitimen
Aufgaben für das Bündnis geprägt, als durch ein breit verankertes Selbstverständnis mit
klaren Aufgaben und Zielen. Kurzzeitig schien die bipolare Ordnung des Kalten Krieges
ersetzt zu sein durch eine unipolare Vorherrschaft der einzigen verbliebenen Supermacht
USA, ohne dass die politischen und strategischen Konsequenzen für die NATO geklärt waren.
Das 1999 beschlossene, nach wie vor gültige strategische Konzept der NATO reflektiert diese
Ambivalenz und politische Suche recht deutlich. Die bald folgende heftige Zerreißprobe über
die US-Intervention im Irak mit einer „Koalition der Willigen“ einerseits und die
geschlossene Intervention der NATO im UN-Auftrag „out of area“ in Afghanistan
andererseits zeigen die Bandbreite der unterschiedlichen Positionen in der Allianz auf.
Seitdem hat sich unverkennbar eine multipolare Weltordnung herausgebildet, die die
Mitgliedstaaten des Bündnisses erneut vor grundlegende Fragen hinsichtlich der politischen
Funktion der NATO in einer globalen Sicherheitsarchitektur und ihrer möglichen
militärischen Aufgaben stellt.
Auch deshalb soll nun ein neues Konzept erarbeitet werden, das auf den veränderten
Charakter des Bündnisses und vor allem der internationalen Lage reagiert. Insbesondere aber
soll es die unterschiedlichen Interessen im Bündnis bündeln. Denn unter der Oberfläche
existieren klare Interessenkonflikte und politische Spaltungslinien.
Divergierende Interessen
Die meisten neuen, osteuropäischen NATO-Mitglieder sehen die Allianz in erster Linie als
klassisches Verteidigungsbündnis mit US-amerikanischer Sicherheitsgarantie und somit als
Rückversicherung gegen mögliche erneute russische Hegemoniebestrebungen. Die meisten
alten europäischen NATO-Mitglieder sehen dagegen das Bündnis vor allem als politischen
Sicherheitsrahmen gegen eine Re-Nationalisierung von Sicherheitspolitik in Europa und als
die (einzige) Struktur, die eine direkte Einbindung und Einflussnahme auf die Politik und die
militärischen Ressourcen der USA ermöglicht. Die Vereinigten Staaten hingegen zielen auf
eine NATO als Werkzeugkasten für Ad-hoc-Koalitionen zur Lösung von Krisen aller Art, als
Instrument zur Bekämpfung von Terrorismus und zur militärischen Lastenteilung in einer
komplizierten multipolaren Welt.
Während also die Osteuropäer Territorialverteidigung und die Beistandsverpflichtung nach
Artikel 5 im strategischen Konzept hoch gewichten wollen, setzt der NATO-Generalsekretär
gemeinsam mit den USA auf die Bedeutung als globales Kriseninterventionsinstrument. Die
meisten alten europäischen Mitgliedstaaten suchen eine enge Kooperation oder Partnerschaft
mit Russland, wohingegen die osteuropäischen Staaten aufgrund ihrer historischen
Erfahrungen einer solchen Politik eher skeptisch gegenüber stehen. Und inwieweit die
Europäische Union Partnerin, Konkurrentin oder schlicht irrelevant für die NATO ist, darüber
fehlt beiderseits des Atlantik eine klare Antwort.
NATO 2020: Wer ist der Feind ?
Eine Expertengruppe unter Leitung der ehemaligen US-Außenministerin Madeleine Albright
legte im Mai eine Studie mit dem Titel „NATO 2020“ vor.[1] Angesichts der Zerrissenheit im
Bündnis addiert der Albright-Bericht jedoch lediglich die unterschiedlichen Wünsche und
präsentiert einen Wunschzettel ohne klare Prioritäten. Politisch zentrale Punkte wie die strikte
Bindung von Einsätzen an das Völkerrecht werden bewusst ausgeklammert. Der Text der
Albright-Kommission und die begleitende Debatte haben allerdings drei politische
Streitpunkte deutlich gemacht: das Aufgabenspektrum der NATO, die Nuklearstrategie und
die Abrüstung, sowie den Umgang mit Russland.
Nach Verabschiedung des strategischen Konzeptes von 1999 herrschte in den USA die Lesart
vor, dass damit die globale Interventionsfähigkeit, im Zweifelsfall ohne die Vereinten
Nationen, beschlossen wurde. Die westeuropäischen Staaten betonten hingegen weiterhin den
Gedanken eines europazentrierten Verteidigungsbündnisses. Das Konzept selbst ist in seinen
Formulierungen interpretationsoffen. Die mangelnden Erfolge der unilateralen Außenpolitik
unter George W. Bush, insbesondere das Desaster im Irak, haben seine Interpretation des
Konzeptes jedoch stark diskreditiert. Die neue US-Regierung unter Barack Obama reagiert
auf diese Entwicklungen nun mit einem multilateralen Ansatz.
Dies spiegelt sich auch in den Vorschlägen der Expertengruppe wider. Als Kernaufgabe der
NATO sieht sie den Schutz ihrer Mitglieder vor Bedrohungen; Sicherheit soll gegenüber
Anderen gewährleistet werden. Dieses Verständnis macht zugleich den problematischen Kern
der NATO und eines jeglichen Verteidigungsbündnisses deutlich: Sicherheit wird zum
Clubgut und nicht zum Kollektivgut. Die Welt wird unterteilt in „wir“ und „die Anderen“.
Problematisch ist bei den Erkenntnissen der Albright-Kommission aber vor allem, gegen wen
und gegen welche Bedrohungen sich das Bündnis wenden soll. Analysiert man die „Gegner-
Debatte“ der letzten 15 Jahre, sticht eine bemerkenswerte Ambivalenz hervor. In den 90er
Jahren avancierte China zu einem, vorerst heimlichen, Gegner. Zeitgleich wurde die
organisierte Kriminalität als neue wichtige Bedrohung entdeckt. Zehn Jahre später ist sie aus
der Debatte fast spurlos verschwunden. Mit dem 11. September 2001 wurde der internationale
Terrorismus zum wichtigsten Gegner erklärt. Komplementär kommt inzwischen noch die
Piraterie als Bedrohung der Handelswege hinzu. Die Neuentdeckung der letzten Jahre sind
schließlich Cyberwar und Cyberterrorismus, also mögliche Angriffe auf die elektronische
Netzinfrastruktur.
Darüber hinaus sieht das Albright-Papier künftige Risiken durch den Kampf um Ressourcen
sowie durch Umweltzerstörungen und Klimawandel voraus. Im Gegensatz zu
Energiesicherheit und Cyberterrorismus werden Klimawandel und Umweltzerstörung
ausdrücklich zu keinen direkten Handlungsfeldern der NATO erklärt. „NATO 2020“ ist
zudem durch ein völliges Unverständnis dafür geprägt, dass alle Menschen das gleiche,
legitime Interesse an der Nutzung von Rohstoffen und Energie haben und der Zugang zu
Ressourcen kooperativ gesichert werden muss. Stattdessen dominiert das Denkmuster falsch
verstandener Interessenswahrnehmung durch einen Wettbewerbs-Militarismus.
Während also die Vorstellungen für das künftige Aufgabenspektrum zu weit gehen, greifen
die bisherigen Ideen im Bereich Nuklearstrategie und Abrüstung viel zu kurz. So hält die
Expertengruppe unverändert am Konzept der atomaren Abschreckung fest. Es werden keine
Konsequenzen daraus gezogen, dass in den letzten Jahren die Nichtverbreitungspolitik
weitgehend gescheitert ist, und zwar nicht zuletzt aufgrund der Verweigerung atomarer
Abrüstung. Die NATO muss endlich von der Drohung des Einsatzes von Atomwaffen
vollständig Abstand nehmen. Der Vorschlag, die nicht atomar bewaffneten Mitgliedstaaten
des Nichtverbreitungsvertrags von der Drohung auszunehmen, ist ein halbherziger Schritt, der
das grundlegende Legitimitätsproblem nicht beantwortet.
Wenig überzeugend sind auch die Aussagen zur konventionellen Rüstung. Der Bericht
bekennt sich zwar zu einem Rüstungskontrollregime, blendet aber völlig aus, dass die
konventionelle Überlegenheit der NATO
Teil heutiger Sicherheitsprobleme ist.
Dem Albright-Papier fehlt zudem eine klare Idee, wie die Beziehungen zu Russland
langfristig gestaltet werden sollen. Heute geht es darum, wie Russland seine Interessen in
Europa definiert. Jede Politik, die Russland außen vor lässt, ist deshalb kontraproduktiv für
die europäische Sicherheit. Denn Russland ist offensichtlich kein Feind der NATO. Mitte
2008 unterbreitete Präsident Dmitrij Medwedjew seine Initiative für eine gemeinsame euroatlantische
Sicherheitsarchitektur. Auch wenn man taktische Elemente in den Vorschlägen
erkennen kann, sollte die NATO das Angebot ernst nehmen und ihrerseits Vorschläge für eine
gemeinsame Sicherheitspolitik vorlegen.
Artikel 10 des NATO-Vertrags eröffnet jedem europäischen Staat die Mitgliedschaft. Die
Aufnahme Russlands wäre ein langfristiges Ziel. Eine NATO mit Russland und unter
Einbeziehung der Staaten, die zwischen der EU und Russland liegen, wäre ein Beitrag für ein
System kollektiver Sicherheit. So würde ein Raum der Sicherheit von Vancouver über Rom
bis Wladiwostok entstehen, der anders als die OSZE den substanziellen Bereich der
Sicherheitspolitik umfasst. Die Demokratiedefizite Russlands, die autoritären Strukturen und
die hegemoniale Regionalpolitik müssten dafür überwunden werden. Aber ein Bündnis, das
Länder wie die Türkei mit damals undemokratischen Verhältnissen akzeptiert hat, kann
hieraus keine grundsätzliche Ablehnung herleiten.
Eine neue globale Sicherheitsarchitektur ist nötig
Die multipolare Welt des 21. Jahrhunderts steht vor der Herausforderung, eine neue globale
Sicherheitsarchitektur zu entwickeln. Die Einbeziehung der NATO, des mit Abstand größten
Militär- und Sicherheitsbündnisses, ist dafür unabdingbar. Weder ohne sie, noch gegen sie
wird diese Aufgabe in absehbarer Zeit gelöst werden können.
Entscheidend ist, ob die politischen Führungen der EU wie der USA begreifen, dass das
transatlantische Bündnis als Block „gegen den Rest der Welt“ keinen Bestand haben kann und
dass die Transformation der NATO im Sinne ihrer Integration in eine multilaterale
Sicherheitsarchitektur erforderlich ist.
Das neue strategische Konzept könnte hierfür politische Weichen in die richtige Richtung
stellen. Vier Punkte sind hierfür von zentraler Bedeutung.
Erstens muss es eine klare Unterstützung des Gewaltmonopols der Vereinten Nationen
enthalten. Einsätze der NATO jenseits des unmittelbaren Verteidigungsfalles bedürfen immer
eines UN-Mandates. Die NATO darf sich nicht als Konkurrenz zur UNO verhalten, sondern
gegebenenfalls als Auftragnehmerin der Weltgemeinschaft.
Zweitens muss den Bestrebungen, den „Verteidigungsfall“ nach Art. 5 des NATO-Vertrages
qualitativ auszuweiten, eine klare Absage erteilt werden. So begrüßenswert es ist, dass auch
Militärs akzeptieren, dass Risiken nicht nur durch Waffen, sondern ebenso durch
Klimawandel und Ressourcenverbrauch entstehen, so wenig ist ein Militärbündnis das
richtige Instrument, diesen Herausforderungen zu begegnen.
Drittens muss die NATO Rüstungskontrolle und Abrüstung zu einer zentralen Aufgabe
erheben. Der Abzug der verbliebenen US-Atomwaffen aus Europa und die Ratifizierung des
angepassten Vertrags über Konventionelle Streitkräfte in Europawären in dieser Hinsicht erste
Schritte; die Übernahme des von Präsident Obama postulierten langfristigen Ziels der
Abschaffung aller Atomwaffen wäre zudem von hoher symbolischer Bedeutung.
Viertens könnte die erklärte Bereitschaft zur Einbindung Russlands ein erster Schritt hin zur
Transformation der NATO sein: weg von einem Verteidigungsbündnis, hin zu einer
internationalen Struktur kollektiver Sicherheit.
Wenn die NATO die politischen Weichen nicht in diese Richtungen stellt, sondern an ihrem
anachronistischen Aufgabenverständnis aus einer bipolaren Welt festhält, dann wird sie mit
ihrer neuen Rolle in der multipolaren Weltordnung erhebliche Probleme haben. Ein
politischer Bedeutungsverlust des Bündnisses ist dann mit großer Wahrscheinlichkeit
vorgezeichnet – wie auch die Frage nach starken, eigenständigen Initiativen für eine neue
globale Sicherheitsstrategie der Europäischen Union.
[1] Dok. unter www.nato.int/strategic-concept/expertsreport.pdf.
(aus: »Blätter« 10/2010, Seite 29-32)
Themen: Außenpolitik und Krieg und Frieden

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